Heimatlose Würmer

30 May 1994
30.05.1994

Tschechien

Heimatlose Würmer

 

Slowakische Sozialwaisen, überwiegend Roma-Kinder, füllen tschechische Heime. Prag will nicht länger für sie aufkommen.

Der kleine Lada wurde nicht unter einem Glücksstern geboren. Die Mutter, eine junge slowakische Roma, geht keiner geregelten Arbeit nach. Der Vater ist unbekannt.

Lada, ein Jahr alt, wächst nun in einem staatlichen Kinderheim der tschechischen Hüttenstadt Kladno 30 Kilometer westlich von Prag auf. Doch wie lange er dort bleiben kann, ist ungewiß. Die Behörden betrachten den Kleinen nämlich als Ausländer, der keinen Anspruch auf einen Platz in einem tschechischen Kinderheim habe. Jedes Kind kostet den Staat jährlich 100 000 Kronen (etwa 6000 Mark).

Von rund 7000 Kindern, die sich in tschechischen Heimen befinden, fallen nach Angaben der Prager Behörden etwa 1200 in die Zuständigkeit der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Ihre Mütter sind oft slowakische Roma, die in Tschechien als Prostituierte ihr Geld verdienen.

Die meist noch minderjährigen Mädchen, die sich nicht viel um Verhütung scheren, gehen überall in Tschechien anschaffen, in Prag ebenso wie in Kladno oder am längsten Straßenstrich Europas, der Fernstraße E 55 von Teplice nach Dresden.

"Kinder der E 55" wird ihr Nachwuchs deshalb in der Presse genannt - eine Brandmarkung fürs Leben.

Über das Schicksal dieser von ihren Müttern verlassenen Babys verhandeln tschechische und slowakische Behörden seit eineinhalb Jahren. Keiner will sie wirklich haben. "Wir wissen nur, daß sie keine tschechischen Bürger sind", sagt Josefa Havlova vom Prager Ministerium für Arbeit und Soziales. "Wir nehmen an, daß sie Slowaken sind, doch eine Bestätigung der slowakischen Behörde steht noch aus."

Wenn die Kinder als Ausländer gelten, dürfen sie nicht zur Adoption freigegeben werden. Bislang konnten sich die zuständigen Behörden in Prag und Bratislava nur darauf einigen, daß zuerst Kinder, die noch keine drei Jahre alt sind, in die Slowakei heimgeführt werden sollen.

Voraussetzung für den Babytransfer ist allerdings, daß die slowakische Herkunft zweifelsfrei festgestellt wird. Und das dauert. Für die Kinder läuft inzwischen die Zeit davon; je älter sie sind, um so schwieriger wird es, geeignete Adoptiveltern zu finden.

"Die Einstellung der Ministerien in Prag und Bratislava ist bürokratisch und hartherzig", klagt Marie Vodickova, Vorsitzende des Fonds für gefährdete Kinder in Prag, die sich um die heimatlosen Sozialwaisen kümmert. Für ältere Kinder bedeute eine Verpflanzung in die Slowakei zudem oft eine Tragödie, weil viele von ihnen schon Tschechisch sprechen.

"Uns sind die Hände gebunden", entschuldigt Frau Havlova vom Prager Sozialministerium die amtliche Säumigkeit. Theoretisch haben Slowaken, die sich in Tschechien aufhalten, bis zum 30. Juni dieses Jahres Zeit, die tschechische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Voraussetzung ist, daß sie seit mindestens zwei Jahren in Tschechien leben und nicht vorbestraft sind.

Ob Ladas Mutter diese Gelegenheit ergreifen wird, ist fraglich. "Die meisten Roma meiden panisch jeden Kontakt zu den Behörden und kümmern sich nicht viel um Formalitäten", erklärt Irena Plesingerova, Kinderärztin und Leiterin des Heimes in Kladno.

Für sie begann das Elend der Sozialwaisen, über deren Staatszugehörigkeit Prag und Bratislava sich nicht einigen können, mit der Spaltung der Tschechoslowakei 1992, die der slowakische Volkstribun VladimIr Meciar so verbissen vorantrieb. "Diese heimatlosen Würmer sind eigentlich Meciars Kinder", sagt die Ärztin bitter.

Die Älteren wurden noch in der CSFR geboren, als Tschechoslowaken. "Und jetzt sind sie mit einem Mal, oft ohne daß sie ihren Geburtsort verlassen haben, unerwünschte Ausländer."

Selbst eine unbürokratische Freigabe zur Adoption würde dem kleinen Lada nur wenig helfen. Zwar müssen adoptionsbegierige Tschechen fünf Jahre und mehr auf die erwünschten Kinder warten. Aber "das gilt nur für sogenannte weiße Kinder", erklärt die Ärztin. "Für Roma-Kinder gibt es keine Wartefrist, aber auch nur wenig Interessenten."

In der Slowakei erwartet Lada kein besseres Schicksal. Dort sei es noch schwieriger, Adoptiveltern zu finden, so werde der Junge wohl ein Heimkind bleiben: "Keine guten Aussichten für unseren Lada", fürchtet die Ärztin. Y



DER SPIEGEL 22 / 1994
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