Mobbing-Klage gegen Nestlé: Unappetitliche Einblicke in einen Lebensmittelkonzern

5 December 2015

Mobbing-Klage gegen Nestlé: Unappetitliche Einblicke in einen Lebensmittelkonzern

Von Nils Klawitter

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Ex-Nestlé-Managerin Motarjemi: "Entweder du bringst dich um, du kündigst oder du kämpfst"

Manager des Lebensmittel-Multis Nestlé müssen sich vor Gericht gegen Mobbingvorwürfe einer Ex-Managerin wehren. Der Prozess zeigt auch, wie schludrig bei dem Konzern bisweilen mit Lebensmitteln umgegangen wurde.

Vergangenen Dienstag, Bezirksgericht Lausanne: Eine Frau schleicht in den Gerichtssaal. Sie bemüht sich um Haltung, denn sie war mal eine stolze Frau. Yasmine Motarjemi war Expertin für Nahrungsmittelsicherheit. Nicht irgendeine: Sie sprach für die Weltgesundheitsorganisation WHO auf Konferenzen, publizierte Bücher, beriet Regierungsvertreter.

Doch nach zehn Jahren beim Nahrungsmittelkonzern Nestlé ist von ihrem Stolz nicht mehr viel übrig. Kaltgestellt worden sei sie dort, sagt die einstige Food-Safety-Managerin. Beim Sprechen versagt ihre Stimme, in ihrem Gesicht sind Spuren jahrelanger Zermürbung zu sehen. "Sie haben mich gebrochen", sagt Motarjemi.

Die gebürtige Iranerin hat den Schweizer Lebensmittel-Multi wegen Mobbing verklagt. Bevor sie den Konzern 2010 verließ, sei sie über vier Jahre von ihrem Chef erniedrigt worden. Bereits im Jahr 2000, als der Konzern Motarjemi quasi als moralisches Gewissen von der WHO abwarb, sagten ihr langjährige Nestlé-Mitarbeiter, sie werde kämpfen müssen. Nestapo wurde das Qualitätsmanagement intern genannt. Sehr beliebt war es nicht.

Motarjemis Problem war zudem, dass es offenbar für viele Manager dieser Ebene neu war, von einer Frau kritisiert zu werden - genau das aber ihr Job war: Auf Lücken bei der Nahrungsmittelsicherheit hinzuweisen. Je öfter sie das allerdings tat, je öfter sie sich bei falschen Vitamindosierungen oder mit Chemikalien verunreinigten Verpackungen einmischte, desto unbeliebter machte sie sich.

Bald hörte sie kaum jemand noch an. Zu Konferenzen sei sie nicht mehr geladen worden, und wenn, fand sie sich auf der Teilnehmerliste bei den Sekretärinnen wieder. Ihr Team wurde ihr entzogen. Stück für Stück habe sie ihre Funktionen verloren. Und dann den Glauben an sich. Irgendwann 2008 stellte sie sich vor die Wahl: "Entweder du bringst dich um, du kündigst oder du kämpfst."

Kultur der Angst im Konzern

Motarjemi entschied sich zum Kampf, und der könnte nun auch Nestlé Probleme bereiten: Eine Reihe hoher Manager wird vor Gericht erscheinen müssen. Noch vor Weihnachten soll Konzernchef Paul Bulcke aussagen, für den es gerade nicht besonders gut läuft: Im Sommer wurden in Maggi-Nudeln in Indien zu hohe Bleiwerte entdeckt und vorvergangene Woche musste Nestlé nach einer Untersuchung seiner Lieferkette sklavenähnliche Zustände auf thailändischen Krabbenkuttern einräumen - ein Vorwurf, den man allerdings schon seit zwei Jahren kennt.

Beim Prozess in Lausanne geht es nicht nur um eine zerbröselte Karriere. Er gibt einen Blick frei auf das Innenleben des größten Lebensmittelkonzerns der Welt - und das ist nicht besonders appetitlich. Er zeigt, welche Probleme der Konzern hatte, die Unbedenklichkeit von Lebensmitteln sicherzustellen, und wie lax manche Manager damit umgingen. Nestlé lässt wissen: Was die Qualität der Produkte angehe, seien die Behauptungen Motarjemis haltlos. Bei Sicherheit und Qualität toleriere man keine Fehler. Nestlé weist auch die Mobbingvorwürfe zurück. Bei Konflikten könne man sich zudem an eine Schlichtungsstelle und an externe Dienstleister wenden.

Was der Konzernsprecher nicht sagt: Dienstleister wie das Beratungsunternehmen iCAS sind lange vor Motarjemis Konflikt eingeschaltet worden. Im Konzern schien sich eine Kultur der Angst breitgemacht zu haben. Bereits 2001 gab laut einer internen Befragung jeder zehnte Mitarbeiter an, unter Mobbing zu leiden.

Managementfibeln, Leadership-Prinzipien oder "Nestlé Values" - das alles schien wenig zu helfen gegen die Doppelgesichtigkeit eines Konzerns, der zwar zur Kritik ermutigt, die Mutigen aber hängen lässt. "Der Skandal in diesem Fall ist der moralische Autismus der Vorgesetzten - fast alle Oberen kannten den Fall und haben nicht reagiert", sagt Alec Feuz, Autor eines Buchs über einen früheren Bespitzelungsangriff von Nestlé auf eine konzernkritische Gruppe von Attac. Ein Personalchef, erinnert sich Motarjemi, habe ihr gesagt: "Bei Nestlé hat der Chef immer recht." Nestlé äußerte sich dazu wie zu vielen anderen Fragen nicht.

Einer der ersten größeren Fälle, die auf Motarjemis Tisch landeten, waren problematische Babykekse: In Frankreich hatten die zu Erstickungsanfällen geführt. Nicht zu zwei Fällen, wie es erst hieß, sondern zu 38 Beschwerden allein im Jahr 2002. Das erfuhr Motarjemi aber erst spät und viel später erst wurde ihr Vorschlag umgesetzt, das Mindestalter für den Verzehr dieses Produkt von 8 auf 15 Monate heraufzusetzen.

Nutzloses "WHO-Quakquak"

Ebenfalls um Babynahrung ging es 2004 in China. "Auch dort änderte Nestlé erst etwas, als es nicht anders ging", so Motarjemi. Die ersten Chargen der mit Jod überdosierten Produkte brachte Nestlé sogar auf den Markt, wie ein internes Dokument vom Juli 2005 nahelegt. Aus Sicht des Unternehmens seien die Jodwerte "innerhalb der Sicherheitsgrenze" gewesen. Effektive Korrekturen, räumt der Konzern indes ein, seien nicht unternommen worden. Für derartige Arbeit gebe es "wenig Kapazität".

In beide Fälle war der Mann eingebunden, der 2006 Motarjemis Chef in der Zentrale am Genfer See wurde.

Bis dahin war es eigentlich gut für Motarjemi gelaufen, ihre Expertise sei "extrem wichtig für das Unternehmen", lobte ihr Vorgesetzter noch 2005. Unter dem neuen Chef wurde ihr Name in der Abteilung zum Tabu. Motarjemis wissenschaftlich-technischen Ansatz, den sie von der WHO mitbrachte, hielt ihr Chef für nutzlos. In einem Schulungsvideo sprach er vom WHO-Quakquak. Und riet den Mitarbeitern: "Wenn Sie Risiken identifizieren, lassen Sie sich nicht ablenken von kontaminierenden Stoffen und Rückständen. Diese sind kein signifikantes Risiko in unseren Fabriken."

Um den Konflikt zu entschärfen, engagierte Nestlé am Ende ein weiteres Beratungsunternehmen. Es durfte einige ausgesuchte Zeugen befragen. In ihrem Bericht schreiben die Berater, Motarjemi sei systematisch ins Abseits gestellt worden. Ihr Chef habe die entwürdigende Situation andauern lassen. Der Bericht hatte Nestlé eigentlich entlasten sollen.