Der Kindermarkt

30 September 2006

 
Das Magazin, Nr. 39
 30. September 2006
 Peer Teuwsen, Bilder Thomas Ott

Der Kindermarkt
Jedes sechste Schweizer Paar will ein Kind und bekommt keines. Die Nachfrage nach Adoptivkindern steigt. Doch der Weg ins Glück führt oft durch die Hölle. Warum im Adoptionswesen so viel schief läuft. 
Mit der Selbstverständlichkeit einer Dreijährigen sitzt das indische Mädchen auf seinem Tripp-Trapp, trinkt Sirup und stopft ein Schinkenbrötchen nach dem andern in den Mund. Die Schweizer Eltern sitzen am Esstisch ihrer Stadtwohnung, die Mutter stützt den Kopf in die Hand, der Blick des Vaters geht ins Leere. Dann verwenden beide das Wort «Wunder». Auf Momente wie diese haben sie fünf Jahre lang gewartet. Jetzt sind beide jenseits der vierzig.


Es war im Sommer dieses Jahres, als die Eltern nach Kalkutta flogen, um das Mädchen Shalini aus einem von Mutter Teresa gegründeten Waisenhaus zu holen. Die Adoptions- vermittlungsstelle von Terre des Hommes hat es ihnen vermittelt, sie waren froh, dass sie die Wahl nicht selbst hatten treffen müssen.


Ein Zebra brachten sie Shalini mit, gefüllt mit Legosteinen. Wenn sie zurück ins Hotel gingen, füllten sie das Zebra mit neuen, kleinen Geschenken. So ging es ein paar Tage, bis Shalini plötzlich auf ihren neuen Vater und ihre neue Mutter zuging und jedem einen Kuss auf die Lippen drückte. Vom ersten Moment an spürten die Eltern eine «tiefe Verbundenheit». Endlich haben sie das Kind, auf das sie über fünf Jahre warten mussten, das Kind, das Linda und Renato Herger schon zu haben meinten, als sie vor drei Jahren nach Rumänien gereist waren.
Im Jahr 2001 hatte sich das Ehepaar Herger für die Adoption mit einer staatlich bewilligten Vermittlungsstelle entschieden, weil es sich von dieser Methode einen Schutz vor Korruption versprach. Die Liste der Vermittlungsstellen wird vom Staat geführt, der auch die Bewilligung der Adoptionsvermittlungsstellen vornimmt. Hergers entschieden sich für RomAdopt mit Sitz im aargauischen Baden. Die Vermittlungsstelle lockte mit einer «Sonderbewilligung» der rumänischen Regierung, mit der man den seit Sommer 2001 geltenden Adoptionsstopp umgehen könne. Das Ehepaar klärte bei den Behörden den Status dieser Sonderbewilligungen ab und erhielt die Antwort, wenn RomAdopt eine amtliche Bewilligung habe, dann sei alles in Ordnung. 


Linda und Renato Herger, die endlich Eltern werden wollten, hatten alles offen legen müssen, was man hierzulande lieber für sich behält: Finanzen, Gesundheit, Beziehung, Wohnverhältnisse. Sie hatten Dutzende von Formularen ausgefüllt, Hunderte von Dokumenten übersetzen, beglaubigen und rückbeglaubigen lassen – und alles in allem 15 000 Franken an die Adoptionsvermittlungsstelle überwiesen. 
Im Vergleich zu den Behörden war Rom-Adopt wesentlich speditiver. Kaum hatten Linda und Renato Herger ihr definitives Interesse gegenüber RomAdopt bekannt gegeben, flatterte auch schon ein Bild der süssen Maria ins Haus, die nun auf sie warten würde, und ebenso ein Besuchstermin in Rumänien. RomAdopt, der schnelle Storch, schickte auch gleich einen Einzahlungsschein mit. 
Dann folgte die Reise nach Bukarest und weiter aufs Land. Das Kinderheim St. Andrei in Giurgiu war das Ziel. Dort sollte ein gesundes Mädchen auf das Ehepaar Herger warten. Übermächtige Nervosität. Ein Mann namens Dan Aurel, der sich als Gewährsmann von RomAdopt vorstellte, nahm die Hergers und viele andere Paare aus der Schweiz beim Kinderheim in Empfang, eine Sonnenbrille von Gucci im Gesicht, einen Anzug von Armani auf dem Körper. Er kassierte 6000 Dollar und brachte ihnen gleich ein Kind: Maria, geboren Ende 2001. 


Doch Linda Herger stellte als gelernte Kindergärtnerin schnell fest, dass das Kind nicht gesund war. Hergers sagten dem Vermittler, diese Behinderung sei nie erwähnt worden, sie müssten sich das zuerst überlegen. Die Gesichtszüge des Mannes verfinsterten sich. Er sagte: «Entweder Sie nehmen das oder keins.» Am nächsten Tag aber schlug er ihnen ein anderes Kind vor. Sie schüttelten den Kopf. Dem Ehepaar Herger kam es vor, als seien sie hier in einem Supermarkt. Sie reisten heim, das versprochene Kind im Kopf, und verlangten von RomAdopt ein Arztzeugnis von Maria. Monate später bekamen sie eines. Das Kind leidet an verzögerter allgemeiner Entwicklung, Muskelschwäche und einer schwachen halbseitigen Lähmung.


Reichliche Konfusion herrschte auch auf dem weiten Feld der Bewilligungen. Am 12. September 2001 hatte der Kanton Aargau RomAdopt eine Bewilligung erteilt – drei Monate nach dem offiziellen Adoptionsstopp seitens der rumänischen Regierung. 


Die Bewilligung wurde auch dann nicht entzogen, als die Zuständigkeit per 1. Januar 2003 vom Kanton auf den Bund überging, weil die Eidgenossenschaft mittlerweile das «Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption» unterschrieben hatte. Einige der betroffenen sechzig Ehepaare hielten zwar den Kanton wie auch den Bund über ihre höchst zweifelhaften Erfahrungen mit RomAdopt auf dem Laufenden, gleichwohl hatten sie den Eindruck, die Behörden seien weder rechtzeitig noch energisch genug dagegen eingeschritten. 
 

Klage gegen RomAdopt


David Urwyler, Leiter des Dienstes für Internationalen Kindesschutz in Christoph Blochers Justiz- und Polizeidepartement, sagt dazu: «Wir haben Anfang 2003 die Bewilligung für RomAdopt vom Kanton Aargau übernommen und liessen sie einfach auslaufen. Da aber nicht klar war, was mit den in Rumänien hängigen Dossiers konkret passieren würde, haben wir RomAdopt untersagt, neue Dossiers in die Hand zu nehmen. Die Schweizer Botschaft und unsere Behörde haben damals die Paare mit hängigen Dossiers immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass der weitere Verlauf der Verfahren unsicher und ein Kinderzuspruch unwahrscheinlich sei. Dennoch hatte ein wesentlicher Teil der wartenden Paare gar keine Freude, dass wir die Bewilligung nicht verlängert haben.» Auf die Frage, ob es denn normal ist, dass eine Vermittlungsstelle sofort ein Bild des Kindes schickt und Geld verlangt, sagt Urwyler: «Ich kann nur sagen, dass das heute nicht mehr vorkommen darf.»
Noch im Jahr 2004 hingegen hat RomAdopt adoptionswilligen Eltern wie dem Ehepaar Herger frohgemut Kinder versprochen und Geld dafür verlangt, obwohl man das nicht mehr hätte tun dürfen, weil RomAdopt gar nicht mehr über eine amtliche Bewilligung verfügte. Viele Eltern zahlten das Geld aus Angst, sie würden sonst nie ein Kind bekommen. 
Maria aus Rumänien kam trotzdem nie in die Schweiz – wie so viele andere Kinder, die man versprochen hatte. Die Sonderbewilligung der Vermittlungsstelle war eine Farce. Hergers konnten aber immerhin eine Patenschaft für Maria eingehen, sodass sie ihr «wenigstens finanziell ein bisschen helfen» können. 
Linda und Renato Herger bereiten nun eine privatrechtliche Klage gegen RomAdopt vor – nicht aus Rache, sondern aus dem schieren Unglauben heraus, dass jemand unrechtmässig Zehntausende von Franken kassieren kann und nicht einmal eine Geldstrafe dafür bekommt. Sie wollen einen juristischen Präzedenzfall provozieren, sonst, so fürchten sie, «geht gar nichts». Ihr Kampf um ein Kind, der mittlerweile fünf Bundesordner füllt, hat viel Kraft und Geld gekostet. Die meisten Adoptiveltern schaffen das nicht. «Es bräuchte eine Lobby von Betroffenen, aber das Thema ist so stigmatisiert, so privat, dass sich viele nicht trauen», sagen die beiden.
Jedes Jahr werden in der Schweiz zwischen 400 und 500 Kinder aus dem Ausland adoptiert. Diese Zahl ist konstant, die Nachfrage aber übersteigt das Angebot wohl um mindestens das Doppelte. Das Missverhältnis wird immer akuter, weil immer mehr Paare auf natürlichem Weg keine Kinder mehr bekommen können. Weltweit werden aber jährlich nur rund 60 000 Kinder zur Adoption freigegeben. Eine Zahl, die erahnen lässt, in welchem Ungleichgewicht hier Angebot und Nachfrage stehen. 


Problem: Privatadoptionen


Die meisten Schweizer Adoptivkinder stammen heute aus Äthiopien, Russland, Indien und Kolumbien. Die beiden letzteren können auf eine lange Tradition der Auslandadoptionen zurückblicken, die Verfahren sind transparent und verlässlich, was man von Russland nicht behaupten kann, wo viel Handel betrieben wird. In Äthiopien beginnt man ebenfalls, sich um die Kinder zu streiten. Aber auch wenn alles gut geht, muss man im Schnitt ungefähr zweieinhalb bis drei Jahre auf sein Adoptivkind warten. Und einen unglaublichen Papierkrieg ausfechten. Das schreckt viele ab. Mit dem Haager Übereinkommen ist das Verfahren noch viel aufwändiger geworden. Zudem hat die Schweiz die ältesten Adoptiveltern der Welt. Nur wer mindestens 35 Jahre alt oder mindestens fünf Jahre verheiratet ist, darf ein Kind aufnehmen. ‘
Das Schweizer Adoptionswesen ist ein Zwitter. Der Bund schickt die Adoptionsdossiers, die man von den Zentralstellen der Kantone bekommen hat, an die Vertragsstaaten. Dieses Jahr sind das etwa zweihundert Dossiers. Bei Nichtvertragsstaaten wie etwa Russland, Haiti und Vietnam wird das Verschicken von den Vermittlungsstellen besorgt. Man kann das Ganze aber auch ohne Vermittlungsstellen machen, ein paar Klicks im Internet genügen. Dann handelt es sich um sogenannte Privatadoptionen. Diese laufen ohne Beaufsichtigung der staatlichen Stellen, hier ist also alles möglich, vom Kinderhandel bis zum Kind auf Bestellung. Man schätzt, dass mindestens die Hälfte aller Schweizer Adoptivkinder so ins Land gekommen ist.


Und sogar der Staat macht mit. So hat etwa der Kanton Solothurn kürzlich im Alleingang Adoptionen aus den USA bewilligt, wo das Adoptionswesen völlig dereguliert ist und man sich im Internet sein Kind nach Augen- und Haarfarbe, Alter, Herkunft und Gesundheitszustand bestellen kann. Oder das Ganze gleich an eine Leihmutter delegiert. Über die USA bekommt man auch die so begehrten Kinder mit blonden Haaren und blauen Augen aus den europäischen Oststaaten. 


David Urwyler, bei dem hin und wieder auch dubiose amerikanische Anwälte anklopfen, hinterfragt seine Aufgabe grundsätzlich: «Macht die Aufsichtspflicht Sinn, solange Privatadoptionen erlaubt sind?» Der Bundesrat, also auch der Justizminister und Chef von Urwyler, hat bei der letzten Änderung des Adoptionsgesetzes ein Verbot von Privatadoptionen abgelehnt. Eine Folge davon ist, dass die Hürden für eine Bewilligung als Vermittlungsstelle tief sind. «Hinzu kommt, dass wir gegen ausländische Vermittler, die in der Schweiz aktiv sind, kaum über eine Handhabe verfügen», sagt Urwyler.
Es geht in der Schweiz nicht alles mit rechten Dingen zu. Der Bericht des Bundesrates über Adoptionen in der Schweiz vom Frühling dieses Jahres enthüllt seltsame Dinge. Aus Thailand zum Beispiel sind in den Jahren 2003 und 2004 54 Kinder eingereist, es wurden aber in dieser Zeit 146 Kinder aus Thailand adoptiert. Bei anderen Ländern ist es ähnlich. Auf diese Diskrepanz hat niemand eine befriedigende Antwort. Doch die Vermutung liegt nahe, dass da Kinderhandel betrieben wird. 


Es sind auch Fälle bekannt, in denen reiche Schweizer Ehepaare schwangere Frauen aus fernen Ländern einfliegen lassen, damit diese ihnen in der Schweiz ein Kind gebären – und dann wieder allein nach Hause fliegen. Adoption also ab Stunde null, um einer «falschen» frühen Sozialisierung des Kindes vorzubeugen. Der Bericht zeigt ferner, dass auch nach dem Verhängen des Adoptionstopps in Rumänien Dutzende von rumänischen Kindern in die Schweiz eingereist und adoptiert worden sind. Maria war nicht dabei. Wie sich später herausstellte, wurde Maria in Rumänien gar nie als Adoptivkind für das Paar registriert. Die Schweizer Botschaft in Bukarest stellte den Betrug erst nach Anfrage des Anwaltes des Paares im Jahre 2004 fest.


Andere Staaten sind viel weiter


In den skandinavischen Ländern ist das Adoptionswesen zentralisiert worden. Wer adoptieren will, muss sich an eine der drei Vermittlungsstellen pro Land wenden, die unter staatlicher Aufsicht stehen. Privatadoptionen sind dort verboten. Die Adoptivkinder und ihre Eltern werden vorbereitet und auch nach der Adoption betreut. Urwyler erzählt, bei seinen Reisen zu den Behörden in Lateinamerika habe er den Skandinaviern immer die Klinke in die Hand gegeben. «Verschiedene Länder betreiben ein richtiges Lobbying, um möglichst viele Kinder zu bekommen.» Und in Frankreich hilft der Staat sogar mit, Kinder zu finden. Die Agence française de l’adoption ist eine staatliche Vermittlungsstelle. Die Italiener haben Dutzende von Vermittlungsstellen, die im gleichen Land tätig sind und somit einen enormen Druck ausüben. Die Adoption ist in gewissen Ländern des Westens also zu einem Instrument der kontrollierten Einwanderung geworden. Denn die Adoptiveltern kommen fast immer aus gut situierten Verhältnissen, können ihren Kindern also die bestmögliche Betreuung und die bestmögliche Ausbildung gewährleisten. Auch so pflanzt sich die Elite fort. Das wissen die Europäer, doch die Schweizer leider nicht. In einer Antwort auf eine Interpellation von SP-Nationalrätin Vreni Hubmann bezeichnet der Bundesrat das Thema Adoption jedenfalls als «marginal».


Zurzeit haben hierzulande zwanzig Vermittlungsstellen eine Bewilligung, und in den 26 Kantonen gibt es jeweils eine Zentralstelle, die sich um Adoptionen kümmert. David Urwyler fragt: «Braucht es so viel Aufwand für so wenige Adoptionen? Angesichts der föderalistischen Strukturen der Schweiz wollte keiner seine Kompetenzen wirklich abgeben. Und man wollte die kleinen Vermittlungsstellen erhalten, auch bei einer Aufsicht durch den Bund.» Er selbst sei da ambivalent, es sei doch schade, wenn diese Stellen schliessen müssten, die oft von einzelnen Frauen betrieben werden, die aus idealistischen Motiven arbeiten. 
Aber genau in diesen idealistischen Motiven liegt das Problem. Die Mitarbeiter der Vermittlungsstellen haben oft persönliche Bindungen an die Herkunftsländer, haben selbst ein Kind aus diesem Land adoptiert, oder sie wollen schlicht und einfach gute Christen sein. Ihr Wille, etwas Gutes zu tun, wird von den Gewährs-, besser: Geschäftsmännern ausgenutzt. So hat im Falle von RomAdopt – deren Geschäftsführerin Dora Schott sich nicht mehr gegenüber den Medien äussert, weil sie weiss, dass ihr mehrere Verfahren drohen – der rumänische Gewährsmann kaum aus reiner Menschenliebe gehandelt. 
Auch haben die Angestellten meistens wenig Ahnung vom Adoptionswesen in den jeweiligen Ländern. Trotzdem hat der Bund kürzlich die Gesuche von zwei Frauen für Vermittlungsstellen von Kindern aus Russland und der Ukraine vorläufig bewilligt. Beide Länder sind nicht Vertragsstaaten des Haager Abkommens, und besonders die Ukraine ist für Kinderhandel bekannt. «Die beiden Frauen sind nette Menschen, haben aber keine Ahnung von der Materie», sagt Marlène Hofstetter, Leiterin Adoptionen von Terre des Hommes und die wohl beste Kennerin der Schweizer Adoptionspraxis.


Teurer Papierkrieg


Der Bund bewilligt solche Gesuche auch deshalb, weil der Druck der Paare, die sich Kinder wünschen, gross ist. Je mehr Vermittlungsstellen, umso mehr Kinder sind auf dem Markt, heisst die Devise. Dem Wohl des Kindes entspricht dies nicht. «Der Bund macht bei den Privatadoptionen beide Augen zu und verschanzt sich hinter der Kompetenz der Kantone. Das Schweizer Adoptionswesen ist kompliziert, ineffizient und unübersichtlich, was den Interessen der Kinder wohl nicht sehr dienlich sein kann», sagt Hofstetter.


Beim Bund sind gerade mal zwei Personen mit 150 Stellenprozenten für Adoptionen zuständig. Das ist sehr wenig angesichts der komplexen Aufgabe. So kann man kaum Druck in den Herkunftsländern machen, um die Verfahren zu beschleunigen. «Wir können kein Lobbying betreiben wie andere Länder», sagt David Urwyler. Norwegen zum Beispiel hat doppelt so viele Adoptionen wie die Schweiz, bei nur vier Millionen Einwohnern. «Der Druck nach zuverlässigen, einfachen und kindgerechten Verfahren ist gross», sagt der Beamte Urwyler – und reicht damit die Aufgabe nach oben weiter, an Bundesrat Blocher.
Das Adoptionswesen ist in den Herkunftsstaaten oft beim Vizepremierminister der Regierung angesiedelt. Dies hat drei Gründe. Erstens kann man damit Geld verdienen, nicht nur Schmiergelder. Im Falle von Peru ist es zum Beispiel so, dass die Übersetzung des Adoptionsdossiers und die Unterschriften der Schweizer Behörden von der peruanischen Botschaft in Bern beglaubigt werden müssen. In Lima beglaubigt das Aussenministerium dann nochmals die Beglaubigungen der eigenen Botschaft. All das allein kostet die Antragsteller schon Tausende von Franken. Zweitens werden die Kinderrechte genau beobachtet. So weiss man heute, dass Rumänien im Jahr 2001 vor allem deshalb ein Moratorium für Adoptionen verhängt hat, weil man andernfalls den EU-Beitritt gefährdet sah. Und drittens ist die Adoption ein Machtfaktor. Die Herkunftsstaaten, oft mit einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber den erfolgreichen West-Ländern behaftet, haben plötzlich etwas, was die andern wollen: Kinder. Letztere allerdings haben davon wenig.


Soll man überhaupt adoptieren? Ja, denn für einige Kinder ist dies tatsächlich der beste Weg. Das Kind einer allein stehenden indischen Mutter zum Beispiel hat keine Chance, denn Mutter wie Kind werden dort aus religiösen Gründen stigmatisiert. Die Risiken einer Adoption sind allerdings gross. Bis jetzt gibt es keine verlässlichen Langzeitstudien über Adoptivkinder, doch Marlène Hofstetter von Terres des Hommes, die seit achtzehn Jahren intensiv mit Adoptivkindern und ihren Eltern zu tun hat, sagt: «Das Adoptivkind ist verlassen worden, was immer eine Narbe hinterlässt. Es hat eine Geschichte, von der man oft nichts weiss, und ausserdem muss es sich mit seiner Andersartigkeit auseinandersetzen. Oft braucht es viel Zeit, Zuwendung und Akzeptanz, um das Selbstwertgefühl dieser Kinder zu stärken, unabhängig vom Alter.»


Aus diesen Gründen macht sich Rolf Widmer, Geschäftsführer der Zürcher Fachstelle für Adoption und Präsident des weltweiten Netzwerkes für Kinderschutz, für die sogenannte offene Adoption stark. Dabei werden die adoptierten Kinder Doppelbürger und behalten somit die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes. Er selbst hat als Alleinstehender drei Buben aus dem Libanon adoptiert und ihnen eine Wohnung in Beirut gekauft, wohin er mit ihnen regelmässig gereist ist, damit sie den Kontakt zur Heimat nicht verlieren: «Warum soll ich die Identität der Kinder auslöschen, die sie dann Jahre später doch wieder mühsam aufbauen müssen?»
Wer mit dem 56-jährigen Widmer redet, bekommt eine kleine Ahnung davon, was mit Kindern auf der Welt so passiert. Vor einem halben Jahr drückte ihm eine Frau in Mali ihren Säugling in die Arme und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Widmer musste das Kind ins Heim bringen, heute lebt es in Paris. In Mali, erzählt er, mache die Polizei jeden Abend die «Kübeltour», um aus Abfalleimern Babys zu holen, die niemand mehr wollte.
Rolf Widmer ist gegenüber der Adoption grundsätzlich kritisch eingestellt: «Entwicklungs- politisch ist eine Adoption fragwürdig. Würde das Geld, das man für ein Adoptivkind ausgibt, in den Ländern investiert, wäre das sinnvoller.» Aber auch er weiss, dass dies Wunschdenken ist. Deshalb schlägt er vor, dass die Vermittlungsstellen professioneller und gemeinnützig arbeiten und viel mehr in die Startbedingungen der Kinder investieren. Er versucht sein Möglichstes. In Tunesien konnte er erreichen, dass bei fünfhundert Heimkindern der Name des Vaters im Pass vermerkt wurde. Denn wer in Tunesien keinen Vater hat, ist ein Niemand. In einem anderen Heim in Tunesien wurden ihm mehrere Säle mit jeweils etwa sechzig Babys gezeigt, die alle «behindert» seien und nicht mehr vermittelbar. Widmer schaute sich die Kinder genauer an und merkte, dass der einzige Körperkontakt, den man den Kleinen zukommen liess, das Windelwechseln war. Er schlug vor, man möge jedem Kind eine Bezugsperson zur Seite stellen, die eine Stunde pro Tag mit ihm spiele. Als er ein Jahr später wieder kam, sprach niemand mehr davon, diese Kinder seien «behindert». In den anderen Sälen war hingegen alles beim Alten.


Bürokratische Schikanen


Am Morgen war Renato Herger mit seiner Tochter Shalini auf dem Riesenrad. Er steht «erleichtert und freudig zugleich» vor seiner neuen Rolle, auf die er mehr als fünf Jahre warten musste, die dann aber doch so plötzlich Gestalt annahm. Kürzlich schaute eine ältere Frau im Tram solange auf Shalini, die nicht die gleiche Hautfarbe hat wie Schweizer Kinder, bis er sagte: «Haben Sie eine Frage?» Die Frau blickte erschrocken zur Seite. 
Das Paar hat die bittere Erfahrung gemacht, dass die Schweizer Bürokratie sie nicht vor einem Betrug schützt und die kleine Maria aus Rumänien nicht vor Korruption. Weder steht das Wohl des Kindes bei den Abklärungen im Zentrum noch fühlten sich Hergers kompetent beraten. Die einzige Ausnahme bildeten die professionellen Adoptionsvermittlungsstellen wie Terre des Hommes oder die Fachstelle für Adoption. 
Trotzdem sind die Hergers jetzt glücklich, denn sie sind schliesslich trotz RomAdopt eine Familie geworden, im Gegensatz zu vielen anderen Paaren, die aufgrund der langen Wartezeit auf das rumänische Kind mittlerweile zu alt geworden sind, um noch ein Kind adoptieren zu können. Damals hatten die Behörden kein Verständnis gezeigt, als die von RomAdopt geschädigte Elterngruppe dem Bund und den Kantonen einen Brief schrieb und von den Behörden verlangte, ihnen die Pflegeplatzbewilligung für Rumänien unbürokratisch auf ein anderes Land umzuschreiben, da sie ja alle bereits abgeklärt waren. Die Behörden waren jedoch der Meinung, dass die geschädigten Paare und das gesamte Verfahren nochmals von vorne beginnen müssten. Deshalb erhielten die Eltern von Shalini zweimal Besuch von den Behörden, obwohl sie immer am selben Ort wohnten, und deshalb dauerte das Verfahren mit Indien noch weitere zwei Jahre. 


Der dreijährigen Shalini geht es gut, auch wenn sie sich mit ihren neuen Eltern erst per Zeichensprache verständigen kann. Sie hat gelernt zu weinen. In den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in der Schweiz verzog sie keine Miene, wenn sie sich wehgetan hatte. So machte man das früher in Kalkutta. Heute nimmt sie abends vor dem Schlafen ein Bild von Mutter Teresa ins Bett, dann betet sie und küsst das Bild.