KINDESMISSBRAUCH Trau keinem, der weiß ist

16 August 1999
16.08.1999
 

KINDESMISSBRAUCH
Trau keinem, der weiß ist
Von Hielscher, Almut und Hielscher, Hans
Organisationen, die sich um verwahrloste Kinder in der Dritten Welt kümmern, werden von Pädophilen für deren Zwecke missbraucht. Die betroffenen Hilfswerke wollen sich mit weltweiten Schwarzen Listen gegen Kinderschänder schützen.
Die Einheimischen nennen sie "die Ratten von Tana" - die etwa 10 000 Straßenkinder in Madagaskars Hauptstadt Antananarivo. Die Minderjährigen bergen sich Abfälle aus dem Müll, um zu überleben. Sie schlafen unter parkenden Autos und in Kanalisationsrohren.
Weil sich kaum jemand um die Jungen und Mädchen kümmert, helfen Europäer. Nach drei Monaten Urlaub auf der Sonneninsel im Indischen Ozean gründeten ein Tontechniker und ein Agraringenieur aus Berlin 1994 die private Hilfsorganisation Zaza Faly - glückliches Kind.
"Straßenkinder sind empfindlich wie Blumen. Man muss sie schützen, damit sie nicht zerdrückt werden." So poetisch warb der Verein für sich im Internet. In einem Fernsehfilm sahen Millionen Deutsche, wie die engagierten Helfer zerlumpten Kindern Essen austeilten, ihnen liebevoll die Fingernägel kappten oder zerfilzte Wuschelköpfe entlausten.
Der Reiseführer "Madagaskar und Komoren - Richtig Reisen" des Dumont-Verlags empfahl dem vom Elend bewegten Touristen, lieber für Zaza Faly zu spenden, als den kleinen Obdachlosen ein Geldstück in die Hand zu drücken.
Heute ist der Verein aus dem Netz verschwunden. Auch die Berliner Telefonauskunft kann keine Nummer finden. Das Straßenkinderheim der Organisation in der madagassischen Stadt Antsirabe - eines von drei Projekten auf der Insel - musste schließen. Zaza-Faly-Gründer Ralf K. wird auf Madagaskar per Haftbefehl gesucht.
Vor zwei Jahren waren die mildtätigen Helfer in bösen Verdacht geraten: Mindestens einer von ihnen soll Kinder sexuell missbraucht haben, behauptete die renommierte internationale Hilfsorganisation Médecins sans frontières, die die Kinder im Heim von Antsirabe medizinisch betreute. Ein Zögling hatte sich den Ärzten anvertraut.
Auch die japanische Ordensschwester Thérèse Hitomy, die ein halbes Jahr bei den deutschen Helfern arbeitete, beschuldigte Zaza Faly. Der Bischof von Antsirabe, Félix Ramananarivo, sorgte sich in einem Brief wegen der "Gerüchte, dass Kinder dieser Institution Misshandlungen erleiden". Médecins sans frontières erstattete in Deutschland Anzeige gegen den Zaza-Faly-Mann.
Die Justiz konnte den Verdacht gegen die Zaza-Faly-Verantwortlichen nicht beweisen, die Staatsanwaltschaft in Frankfurt (Oder) stellte kürzlich das Ermittlungsverfahren ein.
Der Vorfall ist kein singuläres Phänomen. Auch anderswo in der Dritten Welt geraten Hilfsorganisationen ins Zwielicht. "Leute mit sexuellen Neigungen für Kinder nutzen geschickt das große Netzwerk der Entwicklungshilfe. Wenn Verdacht aufkommt, wechseln sie von einer Organisation zu einer anderen", warnt Phillippe Biberson, Präsident von Médecins sans frontières Frankreich.
Der britische National Criminal Intelligence Service, eine nationale Polizeibehörde, stellte in einem Bericht fest: Pädophile Straftäter benutzten Hilfsorganisationen in Afrika bereits in einem Umfang, der dem Sextourismus ins thailändische Bangkok und Pattaya nahe komme. Es gebe sogar Hinweise, dass Helfer ihnen anvertraute Zöglinge nicht nur selbst sexuell missbrauchten, sondern sie auch an andere Pädophile für pornografische Fotos und Videos verkuppelten.
"Es gibt ein Risiko, dass pädophile Täter die besondere Situation in Schutzprojekten der Dritten Welt ausnutzen, um Kinder sexuell zu missbrauchen", bestätigt auch Wolf-Christian Ramm, Sprecher von Terre des Hommes Deutschland. Sponsoren der Organisation, so Ramm, drohten bereits, ihre Spenden zu stornieren.
Sie sind aufgeschreckt durch einen Skandal bei der Schweizer Terre-des-Hommes- Organisation, die mit der deutschen Gruppe nur den Namen gemeinsam hat. In der äthiopischen Wollo-Provinz, enthüllte die britische Tageszeitung "The Guardian", hatten Pädophile das Terre-des-Hommes-Kinderdorf Jari regelrecht unterwandert. Der für Äthiopien zuständige Direktor der Organisation, David Christie, 57, wurde als Kinderschänder entlarvt.
"Die Kinder denken, der muss gut sein, nur weil er weiß ist", erzählt Yehalew Alebachew, heute 18 Jahre alt, der mit 15 im Kinderdorf missbraucht wurde. "Jeder Weiße war gut, dachten wir. Heute traue ich keinem mehr, der weiß ist."
"Er war wie unser Vater", erinnert sich Berihun Kebede, ein anderes Opfer, "früher waren wir stolz, Terre-des-Hommes-Kinder zu sein, jetzt schämen wir uns deswegen."
Der Brite Christie, Vatergestalt für mehr als 300 Jungen und Mädchen - fast alle Kinder hatten während der Hungerkatastrophe von 1984/85 ihre Familien verloren -, übernahm 1994 den Job des Terre-des-Hommes-Repräsentanten in Äthiopien. Obgleich er Büro und Wohnung in der Hauptstadt Addis Abeba bezog, verbrachte er jede freie Minute im Kinderdorf im Hinterland.
Der Pädophile Christie hatte einen großen Freundeskreis. So brachte er schon bald nach seinem Amtsantritt den Kanadier Denys B. ins Kinderdorf. Doch der blieb nur wenige Wochen: Äthiopische Mitarbeiter hatten ihn in flagranti mit einem zwölfjährigen Jungen erwischt. Christie selbst feuerte den Mann.
Ein Freund Christies war auch der Kanadier Marc Lachance, der den Circus Ethiopia gründete. Der ehemalige Lehrer an der Internationalen Schule in Addis Abeba sammelte Straßenkinder auf und lehrte sie akrobatische Kunststücke. "Die Kreativität der Straßenkinder hat die Kraft, sie zu retten", schwärmte der Zirkusdirektor in einem Interview. Schon bald tingelte Circus Ethiopia durch die Welt - umjubelt von tausenden Besuchern, die mit dem Kauf einer Eintrittskarte auch einer guten Sache dienen wollten.
Doch es blieb nicht beim Flickflack- Schlagen, Jonglieren oder dem Bau menschlicher Pyramiden. Im Oktober vergangenen Jahres baten 15 junge Akrobaten auf einer Tournee in Australien um Asyl. Begründung: Ihr Chef verginge sich seit Jahren an ihnen. Lachance wies die Vorwürfe weit von sich. Kurz nachdem die äthiopische Polizei ihre Ermittlungen aufgenommen hatte, beging er Selbstmord.
Terre des Hommes entließ Christie, fünf weitere Mitarbeiter des Projekts stehen unter Verdacht, Kinder sexuell missbraucht zu haben. "Wir machten den Fehler, diese Dinge intern regeln zu wollen, weil wir Angst hatten, dass uns die äthiopischen Behörden des Landes verweisen", gibt der Schweizer Terre-des-Hommes-Sprecher Christoph Schmocker offen zu, "wir hätten sofort die Äthiopier informieren müssen."
Erst als der Skandal im Land bekannt wurde, ging Terre des Hommes in die Offensive. In Äthiopiens größter Tageszeitung leistete die Organisation Abbitte: "Wir entschuldigen uns aus tiefstem Herzen bei unseren Schützlingen, unseren Mitarbeitern, der äthiopischen Öffentlichkeit und Regierung für diese Tragödie. Und wir verpflichten uns, den angerichteten Schaden wieder gutzumachen."
Für diesen Zweck hat Terre des Hommes die äthiopische Psychologin Tizita Gebreu engagiert, eine erfahrene Expertin, die in Schweden jahrelang traumatisierte Sex-Opfer behandelt hat. Gebreu führt zur Zeit mit allen 300 Kindern in Jari intensive Gespräche und forscht auch nach jenen Jugendlichen, die das Dorf bereits verlassen haben. Sie befürchtet, dass sie viele weitere Opfer aufspüren wird.
Terre des Hommes Deutschland ist bislang von einem derartigen Skandal verschont geblieben. Doch der deutsche Sprecher Ramm räumt ein: "Das Risiko ist groß. Wir würden lügen, wenn wir sagen würden, das kann uns nicht passieren."
Die betroffenen Organisationen können sich kaum wirksam schützen. Der Verein Plan International Deutschland in Hamburg, der bislang 116 000 Patenschaften in 21 Länder vermittelte, hat für Begegnungen zwischen Spendern und ihren Patenkindern einen Knigge erarbeitet. "Bei uns gilt eine eiserne Regel", sagt Plan-Sprecherin Inga Esser, "ein Sponsor darf nicht mit seinem Patenkind allein sein, da ist immer jemand von uns dabei."
Die Kindernothilfe e. V. in Duisburg, die das Pädophilenproblem aus drei Fällen kennt, setzt auf intensive Schulung ihrer Helfer. "Beim geringsten Verdacht", so Renate Vacker von der Nothilfe, "trennen wir uns von den Mitarbeitern." Außerdem habe man gute Erfahrungen gemacht, in reinen Mädchenprojekten ausschließlich weibliches Personal einzusetzen.
In Großbritannien haben sechs renommierte Stiftungen, darunter der Kinderschutzbund, nach dem Skandal im äthiopischen Kinderdorf Jari in einer gemeinsamen Initiative strengere Bestimmungen gefordert. Nach bestehendem Recht können verurteilte britische Sexualstraftäter gezwungen werden, den Behörden ihren Wohnsitz anzugeben. Wenn sie aber ins Ausland gehen, entfällt diese Pflicht.
Ein Register von Sexualstraftätern verlangt auch die schweizerische Terre des Hommes. "Wir wollen Schwarze Listen", sagt Christoph Schmocker, "und sei es auch nur zum Informationsaustausch unter den Hilfsorganisationen." In Deutschland sind die Kinderschützer geteilter Meinung: Kritiker warnen davor, den Datenschutz auszuhöhlen.
Der Bundestag hat schon 1993, aufgestört durch den wachsenden Kinder- sex-Tourismus in Entwicklungsländer, reagiert: Das Parlament beschloss, das Strafgesetzbuch dahingehend zu erweitern, dass im Ausland wegen Kindesmissbrauch straffällig gewordene Bundesbürger auch in Deutschland verfolgt werden können.
Doch mit der Umsetzung hapert es. "In sechs Jahren sind weniger als zwei Dutzend Sexualstraftäter vor Gericht gestellt worden", klagt Mechtild Maurer vom internationalen Kinderschutzbündnis ECPAT. Die Abkürzung steht für End Child Prostitution, Pornography and Trafficking for Sexual Purposes. Die deutsche Sektion nennt sich "Arbeitsgemeinschaft gegen kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern". In ECPAT haben sich 25 in der Dritten Welt aktive Hilfswerke zusammengeschlossen, darunter Brot für die Welt und Misereor.
Nach ECPAT-Erkenntnissen recherchiert die deutsche Justiz fast ausschließlich daheim: Im Ausland aktive Kinderschänder seien bislang nur belangt worden, wenn die Fahnder bei Hausdurchsuchungen belastendes Material gefunden hätten. Hinweise kämen meist von Reisenden, die Verdächtige vor Ort beobachtet hätten. Die Zusammenarbeit mit der jeweiligen Polizei sei unterentwickelt.
"Viele Staatsanwälte", glaubt Maurer, "sind einfach überfordert, Verbrechen in fernen Ecken der Welt nachzugehen."
ALMUT HIELSCHER, HANS HIELSCHER


DER SPIEGEL 33/1999
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